Arm?

Vor einiger Zeit habe ich diesen Artikel hier gelesen. Es geht dort nicht etwa um Kinderarmut in Afrika oder China oder sonstwo, sondern hier, vor unseren Türen. Kinderarmut in Deutschland ist für viele immer noch kein Thema. Oft heisst es ja "uns geht es noch viel zu gut", was in vielen Teilen auch zutrifft, aber schon längst nicht mehr für alle. Ich lebe seit ich ca. 4 Jahre alt bin in den Randbezirken Berlins. Und mit Randbezirken meine ich Hellersdorf und Marzahn.

Die offensichtlichste Armut die man in einer Stadt wie Berlin sehen kann sind die Bettler und Obdachlosen, mit ihren Bier- und Schnapsflaschen in der Hand die es sich an einschlägigen Bahnhöfen "bequem" machen und den vorbeiziehenden Passanten ihre typische "Haste mal nen Euro oder nen bissl Kleingeld für mir"-Phrase entgegensprechen. Meist über- und manchmal auch erhört. Wir neigen dazu wegzusehen und nur wenn uns das Gewissen mal wirklich plagt, wirft man schnell eine Münze oder zwei, je nachdem was sich gerade zufällig in der Hosentasche befindet, in den dargebotenen Plastikbecher oder in die Mütze. Alternativ dazu kommen natürlich auch von einigen Passanten die erstklassigen und sehr hilfreichen Ratschläge wie "Such dir nen Job du Penner".

Die weniger offensichtliche Armut ist aber in meinen Augen die schlimmere. Es ist die Armut die in den Wohnstuben stattfindet. In Treppenhäusern und in Kellern. Die tief ins Leben schneidet und sich dabei hinter einer Fassade aus Lügen und Kleinbürgertum versteckt. Nach außen hin wird eine heile Welt vorgegaukelt. Hinter dieses Fassade bröckelt es an allen Ecken und Kanten. Die Sozialhilfe reicht nicht für das Minimum an Leben, oder sie wird von Vätern/Müttern auf den Kopf gehaun für Alkohol und Drogen.

Die Kinder, also die Kleinsten und Schwächsten in diesem "Spiel des Lebens", sind dabei die Leidtragenden. Nicht nur das sie die Zankereien in der Schule (sofern sie dort überhaupt hingehen) ertragen müssen weil sie nicht jeden Tag duschen und die Klamotten aus der Kleidersammlung sind, nein, meist bekommen sie auch den Tag über nichts zu essen, da sich die Eltern die Schulspeisung nicht leisten können oder wollen, und von Zuhause auch nichts mitgegeben wird. Von Gewalt und Missbrauch durch gefrustete Eltern ganz zu schweigen. Wenn ich dann in "meinem" Plus (Discounter) einen kleinen Jungen sehe, mit zerrissenen Klamotten, einem Zweieuro-Stück in der Hand wie er ein Toastbrot, eine Packung Salami und einen Tetrapack "Wein" auf das Fließband legt und der Kassiererin einen Zettel in die Hand drückt auf dem wohl die Erlaubnis der Mutter/des Vaters steht das er den Wein holen soll, dann weiss ich was dieser Junge zum Abendbrot essen wird, und wo die Mutter/der Vater liegen werden. Auch die Kassiererin wusste es scheinbar. Sie griff unter ihre Theke und drückte dem kleinen einen Schokoriegel in die Hand. Nur ob sie sich danach besser fühlte wage ich zu bezweifeln.

Es gibt diese Menschen in allen Bezirken dieser Stadt, und auch im Umland gibt es viele davon. Auch hier neigen die "besser gestellten" Menschen dazu nicht zu hinterfragen sondern lieber wegzusehen, oder schlimmer noch, zu lästern. Wer kennt nicht Aussagen wie "Schau dir mal an wie abgeranzt die ausschaut. Die soll sich mal neue Klamotten kaufen. Und ihre Kinder erst. Ne richtige Rabenmutter." Das diese "Rabenmutter" eventuell trotz Sozialhilfe einfach kein Geld und keine Mittel hat ihre Kinder und sich selbst besser zu versorgen wird dabei geflissentlich übergangen. Dieses "Niedermachen" von schlechter Gestellten ist so tief in unserer heutigen Gesellschaft verwurzelt, dass sogar ich mich bei solchen Gedankengängen erwischte, bis mir dann auf einmal auffiel was ich da tue. Das Niedermachen von Menschen die eh schon ganz unten sind, nur um mich dadurch aufzuwerten. Tiefer kann man moralisch eigentlich schon fast garnit mehr sinken.

Und dann gibt es noch die sogenannte "Fast"-Armut. Den Spruch "Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel" kennt wohl jeder. Und es gibt viele die nach diesem Spruch leben. Jedes Schnäppchen muss mitgenommen werden, jeder Euro wird zweimal rumgedreht und nach jedem Zahltag wird überlegt, welche Rechnung man bezahlt und welche man in den nächten Monat mit rüberschiebt um Geld fürs Essen zu haben. Wenn man mal schlemmen will geht man sich eine Packung Eis im Supermarkt kaufen (die für 99 Cent, weil das ja eh besser schmeckt als das teure im Eiscafe) und macht es sich Zuhause auf dem Balkon oder vor dem Fernseher damit gemütlich. Ausflüge werden nach Kosten und nicht unbedingt nach Interesse geplant und wenn man sich wirklich mal was leisten möchte, bezahlt man mit dem gesparten Geld (sofern man überhaupt zum sparen kommt) dann doch lieber das Inkassobüro oder den Gerichtsvollzieher, der eh nichts aus der Wohnung pfänden könnte. Und dabei wird immer versucht zumindest den Schein von "Es geht mir trotzdem gut" aufrecht zu erhalten, denn wenn diese kleine Maske irgendwann mal bröckelt und derjenige die Sinnlosigkeit und Freudlosigkeit in seinem Leben erkennt, sind die Depressionen die sich still im Hintergrund aufgehalten haben auf einmal die Stars in der Arena und setzen so manchem Leben ein frühzeitiges Ende.

Die Armut nimmt in allen Bereichen des Lebens zu. Es sind immer mehr betroffen. Und irgendwann werden die meisten einfach nicht mehr drüber hinwegsehen können. Sei es weil sie selbst oder Teile ihrer Familie betroffen sind, oder einfach weil man Elend nicht ewig Ignorieren kann. Noch sind wir in Deutschland was Armut betrifft bei weitem nicht auf dem Stand von z. B. den Slums in Venezuela oder Indien. Aber es geht mit vielen Menschen weiter abwärts. Ist nur die Frage ob man es abbremsen kann oder ob es schneller wird.
Burningheart - 25. Sep, 11:04

Letztens als ich in der Stadt war habe ich drei Leute gesehen, die in den Mülltonnen etwas gesucht haben....das war noch nie so extrem.......auch Rentner. :(
Als ich das mit dem Kind gelesen habe, habe ich fast geweint....hauptsache der Wein für die Eltern wird bezahlt..... aber die Resignation ist ja auch noch nachvollziehbar. Obwohl es wichtiger ist, dass das Kind was vernünftiges zu essen hat. Ich glaube es wird noch viiil schlimer. Vielleicht sollte es in der heutigen Zeit wirklich Ganztagsschulen geben, in denen die Kinder, die kein Geld haben auch umsonst essen können. Und Schuluniformen würden das Problem mit den Klamotten auch lösen und alle gleich stellen.....wenn sie bei ärmeren von den Schulen oder Förervereinen der Eltern übernommen werden würden. Aber das ist wohl eine Utopie, dass andere Eltern auch noch Geld für ärmere abgeben.....weil sie meist auch vorsichtig mit dem Geld sein müssen....die Schraube geht auf jeden Fall unaufhaltsam nach unten. Wer arm ist, der kann sich ja auch bald keine Bildung mehr leisten....das ist so wie früher mit der Klassengesellschaft.

Legatus - 25. Sep, 15:04

Auch Ganztagsschulen sind keine Lösung...eine etwaige Lösung muss viel weiter unten in der Bevölkerung ansetzen, damit diese Hoffnungslosigkeit die bei einigen herrscht aufhört und der Glaube an eine Zukunft nicht gänzlich ausgelöscht wird. Aber davon sind nicht nur wir Deutschen, sondern die gesamte Menschheit noch nen gutes Stück von entfernt.
Nachtblau - 25. Sep, 12:06

Ja, stimmt.
Einen Vorwurf muss ich diesen Menschen aber trotzdem machen: anstatt sich darum zu kümmern, dass es ihre Kinder später mal besser haben, wird sich um die Kleinen oft gar nicht gekümmert, da ist dann Hauptschule und kein Ausbildungsplatz vorprogrammiert, und das Ganze geht von vorne los. Und Depressionen und dergleichen lass ich da nicht gelten, wenn man will, geht das, meine Mutter hats mit uns auch geschafft.

Legatus - 25. Sep, 15:06

Wenn ein Erwachsener Mensch keine Zukunft mehr für sich sieht und nichtmal die eigenen Kinder es schaffen diese Menschen "am funktionieren" zu halten, dann ist da auch mit Wollen nicht mehr viel zu erreichen. Diese Menschen haben sich und ihre Umwelt total aufgegeben. Das hat bei weitem nichts mehr mit Depressionen zu tun. Und manche sind einfach schlicht nicht mehr in der Lage sich um sich selbst und die Familie zu kümmern.
Nachtblau - 25. Sep, 15:18

Ich sag es ist Faulheit und Desinteresse, wer im Cafe sitzt und mit Kumpels Kaffee trinkt hat sich nicht aufgegeben. Und wer dann in der Schule aufkreuzt und sich aufführt, weil ja "die Lehrer da" alles falsch machen, auch nicht.
Legatus - 26. Sep, 00:05

Nunja, es sind meist Einzelfälle die sich wirklich nur für sich selbst interessieren...meistens versucht so eine alleinerziehende Mutter noch eine Ganze Weile alles auf die Reihe zu bekommen...nur irgendwann ist die Luft raus...und diese Menschen geben sich dann einfach auf....
Mauzi - 25. Sep, 18:06

Diese Armut treibt mir auch immer die Tränen in die Augen. Auch die Geschichte Toasbrot/Salami/Wein. Vielen Menschen fehlt es einfach an Kraft, das arme Leben gut, sinnvoll und zukunftsorientiert zu leben.

Ja, da fallen die schwächsten in dem System, die Kinder, hinten runter. Der Staat sollte theoretisch helfen - sind wir nicht ein Sozialstaat? - aber praktisch kann es gar nicht so viele Sozialarbeiter geben wie Bedarf ist. Zumal es vielzuviele Menschen gibt, die sich da nicht mehr raushelfen lassen wollen. Jeder ist auf sich selber gestellt. Und Kinder haben darf jeder Versager (offtopic: aber adoptieren darf man nur unter unglaublichen Bedingungen).

Wie kann der einzelne überhaupt wirklich helfen? Ich habe viele Jahre solche Menschen um mich gehabt. Sie nehmen keine Almosen an, oder nutzen sie für Zigaretten/Alkohol, Ratschläge nehmen sie auch nicht an, und wenn man ihnen einen kleinen Verdienst anbieten will (z.B. Bügeln, o.ä.) haben sie keinen Bock dadrauf. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Das ist ein wahnsinnig schwieriges Thema, zu dem man viel falsches und viel richtiges sagen kann und zu dem man erfolgreiche wie erfolglose Erfahrungen mit gemacht hat.

Das schlimme ist die Ghettobildung. Wären die Armen auf die Stadt/Region verteilt, so wie es in vielen Regionen Englands eingeführt wurde, wäre die Aufmerksamkeit der Nichtarmen automatisch da (weil es ja der direkte Nachbar ist) und solidarische Hilfe ist möglich. Beispiel: Sammelaktionen für Klassenfahrt, einige Schüler haben das Geld nicht, da legen die anderen Eltern zusammen. Etc. Das durchbricht die Kette der Hoffnungslosigkeit.


blablabla ich könnt noch weiter labern.

Legatus - 26. Sep, 00:07

Hilfe vom Staat sollte und kann man kaum erwarten. Sozialarbeiter gibt es immer zu wenig, und die Randgruppenbildung ist in Großstädten eher Regel als Ausnahme. Nachbarschaftshilfe ist in Deutschland auch eher eine Seltenheit als normal...leider muss man da sagen. Ich weiss auch keine wirkliche Lösung für das Problem, außer immer wieder darauf Aufmerksam zu machen, damit diese Menschen ein wenig mehr Aufmerksamkeit und somit vielleicht auch etwas mehr Hilfe bekommen.

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